Ausschnitt aus dem Buch „Ein Mensch, den sie Schnute nannten“, von Josef Krämer
Das Leben auf dem „Kamp“
Karl wohnte in einem kleinen Fachwerkhaus „Auf dem Kamp“, wie die Leute sagen oder postalisch korrekt: auf der Kamperstraße. Das Häuschen hatte sein Großvater gebaut. Der war sein Lebtag lang Steinkühler gewesen, wie auch sein Vater vorher und sein Sohn nach ihm. Die Steinbrüche waren das Schicksal vieler Menschen über Generationen in Lindlar und auch sonst mancherorts im Bergischen Land. Sie waren ihr Brot und sie waren ihr Tod.
Karls Großvater war längst an der Staublunge gestorben, noch bevor er auf die Welt gekommen war. Diese Krankheit raffte viele Steinbrucharbeiter viel zu früh dahin. Seine Großmutter war mit vier Kindern zurück geblieben, drei Mädchen und einem Jungen. Da war sie gerade einmal 35 alt gewesen. Eins der Mädchen war mit zwei Jahren an einer Lungenentzündung gestorben, die beiden älteren waren längst aus dem Haus und verheiratet. Sie wohnten nur wenige Kilometer weit weg, die eine in Altenrath und die andere gleich nebenan in Böhl. Das hing damit zusammen, dass sie ihre Männer beim Hellinger Schützenfest in Altenrath kennengelernt hatten. Eigentlich waren sie nur hingegangen, um mal Karussell zu fahren und zu tanzen. Ein halbes Jahr später mussten beide heiraten, denn es hatte sich Nachwuchs angekündigt. Jeder Schuss ein Treffer war die Devise der Hellinger Schützen.
Dem Jungen hatte man den Namen Richard gegeben. Er war beim Tod seines Vaters das jüngste der Kinder gewesen.
Der Vater wäre so gerne einmal mit der Bahn von Lindlar nach Köln gefahren. Seit Jahren baute man im Sülztal daran und es müsste ein wunderbares Abenteuer sein, einmal über das Viadukt „In der Broche“ zu fahren und sich die Welt von oben anzusehen. Doch dass die in Betrieb ging, erlebte er nicht mehr. Er wurde achtunddreißig Jahre alt. Bei seinem Begräbnis pfiff und bimmelte die Lokomotive das Schwarzenbachtal hinauf, als ob sie „Adieu“ rufen wollte.
Der Richard war gerade mit vierzehn Jahren aus der Schule gekommen, hatte aber schon ein paar Wochen im Steinbruch gearbeitet. Nach den Zeugnissen hatte ihn niemand gefragt. Da konnte er auch nicht viel vorweisen, denn er war zweimal sitzengeblieben. Was er für seine Tätigkeit bei den Steinen brauchte konnte er: arbeiten. Nicht viel fragen, den Mund halten und arbeiten. Und natürlich trinken. Das war so ziemlich das erste, was ihm die Kumpel in der Holzbude unter viel Geschrei und dummen Ratschlägen beibrachten. Sie tranken meistens Klaren aus den Blechtassen, die in der Bude auf den Tischen standen. Die Steinkühler folgten dem Aberglauben, dass der Schnaps den Dreck hinunterspülen würde, der die Staublunge verursachte. Die Grimassen des neuen Helfers, als er den ersten Schnaps hinunterkippte, waren anscheinend besonders erheiternd, denn das Gelächter war so laut, dass der Schmied, der in seiner Werkstatt dafür sorgte, dass die Eisen zum Bearbeiten der Steine scharf waren, vor die offene Tür trat und drohend rief: „Lasst den Beuet in Ruhe!“
Beuet heißen im Bergischen die jungen, ungestümen Rinder, und man überträgt dieses Wort auch auf die jungen Burschen. Der Schmied hieß Willi. Sein Gesicht lief rot an und seine Halsschlagadern schwollen zu dicken Strängen, so brüllte er in unbändiger, cholerischer Wut.
Natürlich geht die Geschichte weiter. „Ein Mensch, den sie Schnute nannten“ ist ein Roman, der in Lindlar spielt. So in den Jahren 1923 bis 1950, kurz nach der Währungsreform nach dem Krieg. Ihr seht es schon an diesem Ausschnitt, der Roman spielt im Steinhauermilieu. Die Hauptfigur ist Karl, der behindert zur Welt kommt, viel Spott und Häme einstecken muss, aber trotzdem zeigt, was er aus sich herausholen kann. Dabei hilft ihm die fürsorgende Liebe seiner Oma, die Freundschaft des Schreiners Hans, des Friseurs Broch, die musikalische Heimat im Musikverein, die medizinische Hilfe des Chefarztes im Krankenhaus und die starke Liebe der Krankenschwester Helga. Alles in allem eine tolle, unterhaltende und spannende Geschichte in der viele Orte in Lindlar eine Hauptrolle haben, der Kamp, die Schätzmühle, die Altenlinde und noch mehr.
Das Buch gibt es auch in der Bergischen Bücherei.
Ich grüße alle Leser mit einem herzlichen „Jott help üch“!
Euer Josef Krämer