STELLUNGNAHME
zum Regressfall des Lindlarer Kollegen Blettenberg, dem Verhalten der Krankenkassen und den notwendigen Forderungen zu einer Änderung der Situation, in der offensichtlich die gesetzlich verankerte Berücksichtigung der Belange chronisch psychisch kranker Menschen durch Wirtschaftlichkeitsprüfungsverfahren massiv gefährdet ist und die sie behandelnden Hausärzte mit einem unerträglichen Regressrisiko behaftet werden.
Vorstand: Dr.med. Ralph Krolewski / Dr.med. Thomas Aßmann
Korrespondenzadresse: Dümmlinghauser Str.76, 51647 Gummersbach
Tel. (02261) 59840
Die aktuellen Entwicklungen im Regressfall des Kollegen Blettenberg zerschlagen die Hoffnung auf ein Einsehen der Verantwortlichen bei den Krankenkassen hinsichtlich der besonderen Versorgungssituation chronisch psychisch und körperlich kranker Menschen in Haus Tannenberg.
Deshalb geht der Vorstand des Hausärzteverbandes im Oberbergischen Kreis ausführlich auf die bestehende Situation und die Folgen ein und leitet daraus Forderungen zu notwendigen Änderungen und Abstellen von offensichtlichen Missständen ab.
Die Verordnungen für die Bewohner von Haus Tannenberg als Pflegeeinrichtung für chronisch psychisch kranke Menschen haben sowohl die Wirtschaftlichkeitsprüfungen als auch das Verfahren vor dem Beschwerdeausschuss der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein und der Krankenkassen als gemeinsame Einrichtung ausgelöst und bedrohen hinsichtlich der Regressfolgen jetzt den engagierten Lindlarer hausärztlichen Kollegen Dr. Blettenberg, der die Behandlungen nach Wegfall des Gummersbacher Nervenarztes Dr. Rothkopf in 2009 übernommen hat. Nachweislich stiegen die Verordnungszahlen mit Übernahme der Behandlungen ab 01.07.2009 an, nachdem die Kreisstelle der Kassenärztlichen Verordnung Nordrhein Hausarztpraxen gebeten hatte, die Versorgung sicherzustellen.
Durch das in der Presse berichtete Vergleichsangebot der Krankenkassen wird ebenfalls die Hoffnung zerschlagen, dass das zunächst an Durchschnittwerten und dadurch hinsichtlich der Gesetzesgrundlagen zunehmend fragliche Verfahren im Verlauf unter Anerkennung der Praxisbesonderheiten korrigiert werden soll. Weder sind die Verantwortlichen im Prüfverfahren bereit, dieses Fallbeil zu entschärfen, noch reichen derzeit die politischen Empörungen bis in den Landtag hinein aus, die grundsätzlichen politischen Schritte zur Änderung solcher verfahrener Situationen einzuleiten.
Bundespolitiker haben erklärt, dass lt. Gesetz der Grundsatz „Beratung vor Regress“ gelten soll, zuletzt Gesundheitsminister Bahr Anfang September 2013 im Haus der Ärzteschaft in Düsseldorf unter Anspielung auf den Fall des Kollegen Blettenberg.
Im August 2013 wurde der Gesundheitsminister in der Presse mit folgender Aussage zitiert:
„Vertragsärzte sollen medizinisch notwendige Leistungen verschreiben können, ohne befürchten zu müssen, in Regress genommen zu werden“
Prof. Karl Lauterbach, MdB und Mitglied des SPD-Vorstandes, äußerte sich gegenüber der Ärztezeitung:
„Ich habe mich intensiv mit der Wirkungsweise des Regresses beschäftigt, er macht keinen Sinn mehr, bestraft Hausärzte und hält vor allem junge Menschen davon ab, sich für eine Niederlassung als Hausarzt zu entscheiden“.
Die politisch gewollte und im Gesetz als Regelfall vorgesehene Beratung vor Regress mit Überprüfung des Verordnungsverhaltens und dadurch bedingter Auseinandersetzung mit dem Anstieg der Verordnungen durch die Behandlungsübernahme in Haus Tannenberg unterblieb aus unerklärlichen Gründen im Fall des Kollegen Blettenberg.
Was ebenfalls auf der Strecke bleibt ist die Versorgungssicherheit chronisch behinderter und psychisch kranker Menschen. In Par. 27 des Sozialgesetzbuches V steht ausdrücklich, dass ihren besonderen Belangen u.a. auch bei Heilmitteln Rechnung zu tragen ist.
So fallen z.B. die Heilmittelverordnungen (Ergotherapie, Physiotherapie) bei chronischen Psychosen mit medikationsbedingten Bewegungsstörungen nicht unter die anerkannten Praxisbesonderheiten durch die Beschlüsse des gemeinsamen Bundesausschusses, obwohl häufig ein hoher und fortwährender Behandlungsbedarf besteht. Notwendige Verordnungen „außerhalb des Regelfalles“ führen somit zu einer Regressfalle für verordnende Hausärzte, während für Neuropsychiater keine Richtgrößen gelten. Wenn kein Neuropsychiater zur Verfügung steht und Hausärzte notwendige Behandlungen übernehmen, laufen sie ins offene Messer der an Durchschnittswerten für Hausärzte ausgerichteten Prüfverfahren. Durch die Anwendung der Prüfrichtlinien ohne Anerkennung der Versorgungsnotwendigkeiten der Bewohner von Haus Tannenberg sind offensichtlich Gesetzesnormen massiv verletzt, die den Grundansprüchen chronisch Kranker nach den international geltenden ethischen Normen Geltung verschaffen sollen (Deklaration des Weltärztebundes von Lissabon zu den Patientenrechten in der aktuellen Version von 2005).
Wir weisen darauf hin, dass die Diagnosen psychischer Erkrankungen (Schizophrenie, wahnhafte erkrankung, Depression) und auch das Vorliegen medikamentös verursachter Bewegungsstörungen zu einem vermehrten Mittelzufluss aus dem Gesundheitsfonds an die Krankenkassen über den Risiko-Strukturausgleich führt.
Neben der monatlichen Grundpauschale von 223 Euro erhält die Krankenkasse für einen Versicherten mit einer chronischen Psychose zusätzlich 407 Euro im Monat (7.560 Euro pro Jahr).
Aus diesem Grunde sind Krankenkassen sehr interessiert an der korrekten Diagnosecodierung, da diese Geldzuweisungen aus dem Gesundheitsfonds auslöst. Chronisch kranke Menschen sind also nicht nur Kostenverursacher, sondern führen zu Geldzuflüssen aus dem Gesundheitsfonds an ihre Krankenkasse.
Ein Hausarzt, der diesen Patienten regelmäßig durch Hausbesuche betreut, erhält dafür ein Regelleistungsvolumen von aktuell 39,10 Euro pro Quartal inkl. Hausbesuche in Pflegeheimen.
Mit diesem im bundesweiten Vergleich in NRW an letzter Stelle stehenden Honorar soll Kollege Blettenberg die immensen Regressforderungen der Krankenkassen begleichen, die nach seinen Aussagen bislang jede Auseinandersetzung mit den Behandlungserfordernissen verweigern!
Wenn Kollege Blettenberg sich letztlich nicht gerichtlich gegen diese Verhältnisse durchsetzen kann, droht in der Versorgungssituation ein massiver Dammbruch!
Ebenfalls wird zunehmend die Hoffnung zerschlagen, unter diesen Bedingungen noch einen Nachwuchs für die hausärztliche Tätigkeit zu gewinnen, deren wichtige Funktion u.a. die koordinierte Betreuung und Behandlung chronisch kranker Menschen vor Ort und über lange Zeiträume ist.
Politiker und Gesellschaft werden sich fragen müssen, ob sie weiterhin solche Verfahren mit struktureller Gewalt als Wesensmerkmal im deutschen Gesundheitswesen mit den genannten Auswirkungen und drohender Beschädigung von Gesetzesnormen und ethischer Standards hinnehmen wollen.
Die Krankenkassen haben in ihrem berichteten Vergleichsangebot gezeigt, dass sie keinerlei Verantwortung für die aufgeworfenen Fragen übernehmen und die Verhältnisse fortschreiben wollen (Verordnungen unter Berücksichtigung der Budgets).
Dass sie gleichfalls dem Kollegen eine Schweigeverpflichtung gegenüber dem Hausärzteverband auferlegen wollten, zeigt, dass sie eine dezidierte und auf die Folgen für die hausärztliche Versorgung bezogene Kritik fürchten.
Der Vorstand des Hausärzteverbandes im Oberbergischen Kreis fordert :
1. Dem gesetzlichen Grundsatz „Beratung vor Regress“ in §106, Abs. 5 SGB V ist vollständig Geltung zu verschaffen.
2. Die für den Risikostrukturausgleich berücksichtigten psychische Erkrankungen (HMG 051, HMG 052, HMG 053, HMG 054, HMG 055, HMG 056, HMG 058, HMG 060 sowie alle in HMG 070 eingeschlosssenen ICD-10 Diagnosen inkl. Sekundärer medikationsbedingter Parkinsonismus) müssen als Praxisbesonderheiten anerkannt und damit aus der Wirtschaftlichkeitsprüfung für Heilmittel ausgeschlossen werden.
Die in den Gesundheitsfonds eingezahlten Versichertenbeiträge sollen nach dem bestehenden Verteilungsmodus gerade die Behandlung schwerer Krankheitsbilder absichern und den Krankenkassen die entsprechenden Finanzmittel zur Verfügung stellen.
Ärztinnen und Ärzte, die diese Behandlungen übernehmen, dürfen nicht abgestraft werden !
Die bestehende Richtgrößenvereinbarung mit den Krankenkassen soll
dementsprechend angepasst und durch den Vorstand der Kassenärztlichen
Vereinigung entsprechend verhandelt werden. Dadurch wird der Gesetzesnorm des §27 SGB V Rechnung getragen, in der es heißt: „Bei der Krankenbehandlung ist den besonderen Bedürfnissen psychisch Kranker Rechnung zu tragen, insbesondere bei der Versorgung mit Heilmitteln und bei der medizinischen Rehabilitation.
“Eine weitere Benachteiligung von Hausärzten, die lt. Ergebnissen der Versorgungsforschung den Großteil von psychisch Kranken in Deutschland versorgen, kann nicht mehr hingenommen werden !
3. Im Fall des Kollegen Blettenberg und ähnlich gelagerter Fälle fordern wir die Krankenkassen und den Beschwerdeausschuss als gemeinsame Einrichtung der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein und der Krankenkassen dringend auf, ihr Verhalten hinsichtlich der Erfassung von Praxisbesonderheiten nach offensichtlichem Anstieg von Verordnungsvolumen nach bekannter und im Verfahren vorgetragener Versorgungsübernahme zu überdenken und zu korrigieren. Nur dadurch kann das erschütterte Vertrauen in eine verantwortungsvolle Funktionsweise des Gesundheitswesens unter Wahrung der Patientenrechte und der ethischen Grundsätze des Arztberufes wiederhergestellt werden.
Das Verhalten von Krankenkassen und Kassenärztlicher Vereinigung steht auf dem Prüfstand und bedarf einer öffentlichen Diskussion .
Wir berufen uns hinsichtlich unserer öffentlich vorgetragenen Kritik und der geforderten Änderungen auf die Prämabel der Patientenrechtsdeklaration von Lissabon, die Ärzten bei Bedrohung grundsätzlicher Prinzipien auferlegt, angemessene Mittel zur Wiederherstellung einzuleiten.
Wir setzen uns ein für eine dringend erforderlich öffentliche Diskussion zu Verfahren und Verantwortlichkeiten , die bislang unter dem Ausschluss der Öffentlichkeit stattfanden und in denen zwischen Kassenärztlichen Vereinigungen und Krankenkassen ausgehandelte untergesetzliche Vereinbarungen offensichtlich Rechtsgüter, Gesetzesnormen sowie die wirtschaftliche Existenz von Ärzten gefährden und den dringend benötigten hausärztlichen Nachwuchs abschrecken.
Gummersbach /Lindlar, den 24.06.2014
Dr.med. Ralph Krolewski / Dr.med. Thomas Aßmann
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